Carl Michael Bellman – der Beginn moderner Dichtung in Schweden

Wie ich zu Bellman kam

Als ich ungefähr 15 Jahre alt war, begann ich, die Bibliothek meines Vaters auf der Suche nach Literatur zu durchstöbern, die von dem, was im Gymnasium zum Kanon zählte und dort gelehrt wurde, abwich. Auf dieser Suche nach lohnender Lektüre also, mit deren Kenntnis ich meinen verhassten Deutschlehrer ärgern und darüber hinaus einen extravaganten Ruf als junger Anarchist und Bohème pflegen konnte, war ich auf Perlen wie François Villon, Else Lasker-Schüler oder William Saroyan gestoßen. Und eines Tages fiel mir auf diesen Raubzügen ein Band in die Hände, der mich von Anfang an faszinierte. Schon seine äußere Erscheinung war anders als alles andere, das ich bisher zur Hand genommen hatte. Das Papier klang anders, rauer – ja, es klang, Papier kann klingen –, es klang lauter, aber durchaus repräsentativ dabei, war, zwar wenn auch weiß, so doch nicht hell: dünkler, ohne vergilbt zu sein. Ebenso waren die Illustrationen kein einfaches Schwarzweiß, grüne und rote Töne waren da, aber gedeckt; grad so, als wollte das Buch sagen, es sei durchaus etwas Besseres, aber dabei auch sparsam und von einer vornehmen Prunklosigkeit. Und was die Illustrationen darstellten, musste den Jüngling erst recht entzücken: halb bis ganz nackte Menschen beiderlei Geschlechts, die sich ihren verschiedenen Vergnügen hingaben, wobei sie damit begannen, einander zuzutrinken. Am Ende des Buches aber stand ein sonderbar gereimter Abgesang als Impressum, so plebejisch anmutend wie der ganze Band, in dem darauf hingewiesen wurde, dass dieses Buch nicht in die BRD und nach Westberlin expediert wird, auf das Erscheinen in der DDR also beschränkt war. Dreifach verbotener von mir gehobener Schatz! Der Dichter aber, der in diesem Buch vorgestellt wurde, war Carl Michael Bellman (1740, Stockholm – 1795, Stockholm).

Das erste Gedicht, das ich in diesem Buch las und das zunächst das einzige war, das mir im Gedächtnis länger haften blieb, war die Fantasie eines gewissen Fredman, der davon erzählte, wie er, wäre er reich und mächtig, König von England, Spanien und Portugal, mit eines Königs Tochter Beilager hielte und mit ihr das Leben genösse. Ich hatte mich in der Folge aber dann mehr mit zeitgenössischer Dichtung beschäftigt und mich der literarischen Avantgarde, zu der ich mich, vermessen genug, selbst zählte, zugewandt. Meine eigenen literarischen Hervorbringungen dieser Zeit, von denen heute nichts mehr in meinen Archiven und, wie zu hoffen ist, auch sonst nirgends sich findet, wurden, Wiener, der ich bin, von der 8-Punkte-Proklamation des Poetischen Actes von Hans Carl Artmann, der Konkreten Lyrik Gerhard Rühms, Friedrich Achleitners, Oswald Wieners und ihres Trommlers Ernst Jandl geprägt. Daneben und dazu erklärten mir Christine Busta, die schon erwähnte Else Lasker-Schüler und Ingeborg Bachmann, wie große klassische, nicht abstrakte Lyrik geht, welche Bilder Gedichte hervorrufen. Nicht vergessen werden darf Jacques Prévert.

Die Nutzanwendung aus alledem, unter dem Einfluss der Neuen Linken und ihrer Barden und Kabarettistinnen und des Agitprop, aber auch unter dem Einfluss einer Szene, die wieder zu Volksliedern und Bänkelgesängen zu finden suchte und sie authentisch oder unverfälscht oder gereinigt oder dem Vergessen entrissen vortragen und neu geschaffen popularisieren wollte, bis sie zur Selbstverständlichkeit geworden wären wie beim Vorbild der amerikanischen, irischen und englischen Sängerinnen und Sänger, war eine Hinwendung zur Tradition. Ich begann, Chansons, Couplets und Lieder zu verfassen, und im Milieu der so genannten Liedermacher tauchte der alte Schwede wieder auf mitsamt seinem Repertoire. Und ich erinnerte mich an dieses Buch und da ich ja gewissermaßen damals auch Liedermacher war, fand ich nun auch andere Übertragungen in den einschlägigen fortschrittlichen Liederbüchern, über die wir damals neben dem Steinitz1 verfügten, und ich sang sie nach. Und ich begann diese Übertragungen zu bearbeiten, zu redigieren, um sie meinem persönlichen Stil anzupassen, verglich die eine Übersetzung mit der anderen, stoppelte mir das eine mit dem anderen zusammen, war mit manchen dieser Nachdichtungen unzufrieden und mit der Zeit entstand so der Wunsch, zunächst nur als Fingerübung, selbst zu übersetzen. Das erste Stück, an dem ich mich versuchte, war das erste, das ich gelesen und von dem ich schon erzählt hatte: Vielleicht war dies ein Zufall, der so gern als Fügung bezeichnet wird, vielleicht war es auch nur, weil die ersten Zeilen zur Übersetzung einluden und dem Poeten keine großen Schwierigkeiten verhießen. Der schwedische Text beginnt so: Portugal, Spanjen, Stora Britanjen. Dass stora groß heißen wird, war leicht herauszufinden.

So also hatte ich das erste Stück geschafft und ließ es, nachdem ich es stolz herumgezeigt hatte, ein paar Jahre ruhen, wobei ich weitere Übersetzungen suchte. Mittlerweile hatte ich auch schon alle Episteln und Gesänge vorrätig in den verschiedensten Interpretationen und vollständig auf schwedisch, ohne sie wirklich zu verstehen, und eine hübsche Sammlung von Interpretationen auf deutsch, wobei eine besonders feine die von Dieter Süverkrüp war, der die Übersetzungen Bellmans durch Fritz Graßhoff vortrug: ein einmaliger Glücksfall, dass ein Lieblingsdichter einen anderen Lieblingsdichter überträgt. Als ich mich mit Graßhoffs Nachdichtungen und den schwedischen Vorlagen näher befasste, fragte ich mich aber, ob es nicht möglich wäre, einen Duktus zu finden, der dem des 18. Jahrhunderts entsprach, also sprachlich historisch korrekt blieb; Graßhoff hatte seinen Bellman im Stil der Bänkelsänger und Schlager des 20. Jahrhunderts geschrieben, ich aber machte mich wieder an s Werk.

Bellman war also, nachdem er schon vorher von Carl Zuckmayer bekannt gemacht worden war (allerdings gab es die ersten deutschen Übertragungen schon im 19. Jahrhundert, so von Hans von Gumppenberg, 1866-1928; Ernst Moritz Arndt, 1769-1860, lobte Bellman), in das Repertoire der damals jungen deutschsprachigen LiedermacherInnen eingegangen und wurde, wenn auch oft in schlechten und verstümmelten Übersetzungen oder Überarbeitungen, gerne vorgetragen. Die Frage aber, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die: Was macht uns den Dichter der schwedischen Klassik so vertraut, was wirkt an ihm so modern, so zu uns und unseren Zeiten passend, dass er bei uns immer wieder als Geheimtipp gehandelt wird und in Schweden noch immer ungeheuer populär und wichtig ist? Nun, ich glaube, dass wir für seine Dichtung so anfällig sind, hängt einfach damit zusammen, dass Bellmans großes Thema die Freizeit ist. Und die Freizeit wieder, streng geschieden von der Arbeitszeit, streng geschieden von einer Zeit, die der Produktion gewidmet ist und für sonst nichts verwendet werden darf, egal auch, was dabei und zu wessen Bedürfnis und Gebrauch produziert wird, diese freie Zeit ist unmittelbar eine Erfindung, wenn wir so sagen wollen, der Moderne. So sehr ist die Freizeit eine Erfindung, eine Konsequenz der Moderne, der bürgerlichen Geselligkeit, der kapitalistischen Produktionsweise, dass 100 Jahre später Marx sie sogar als das Maß des Reichtums ansehen wird. Er bleibt dabei merkwürdig unentschieden, ob er damit schon einen Reichtum meint, der den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft, also der gegenwärtigen entspricht, oder den Reichtum von Verhältnissen, die erst – kommunistisch – hergestellt werden müssen. Für Bellman aber im Stockholm des 18. Jahrhunderts war die Sache klar: Wenn nicht gearbeitet werden muss – und es entstanden damals neben einer Menge Manufakturen auch schon fabriksähnliche Anlagen –, dann war Freizeit, Zeit zum Feiern, Feierabend.

Bellman verfasste Kunst für diese Freizeit und vor allem über diese Freizeit. Dies bedeutete aber, dass er seine Kunst für ein bürgerliches Publikum betrieb, wiewohl er auch bei Hof erschien und die Livree trug, die Gustaf III selbst entworfen hatte, und vom Hof nach traditioneller Weise sein Einkommen bezog: Wikipedia2 beschreibt das so, „dass Bellman ab 1776 mit dem Titel eines Hofsekretärs und einem Jahresgehalt von 1.000 Talern bei der Königlichen Lotterie angestellt wurde. Ein Teil dieses Gehalts diente wohl dazu, Vertreter zu bezahlen, die die Amtsgeschäfte für ihn erledigten, mit dem Rest führte er das Leben eines freien Mannes.“ Was hier etwas verächtlich klingt, ist der Usus der Hofgesellschaft. Es geht eben nicht um einen Arbeitsplatz, sondern um ein Einkommen und ein Amt. Bellman war also nicht gezwungen, als freier Künstler von seiner Kunst zu leben, sondern konnte dies von seiner Sinekure (wenigstens solange sein ihm gewogener König lebte); in dieser Hinsicht war er noch den Verhältnissen und Beziehungen des Ancien Régime verhaftet. Der Inhalt seiner Kunst aber, die Fragen des Realismus, die damit einhergingen, und seine Beziehung zu seinem Thema, das war schon modern.

Wenn er sich mit den Einwohnerinnen und Einwohnern Stockholms in der Vielfältigkeit ihrer Typen auseinandersetzte, sie zu seinem Thema machte, sie beschrieb, teils liebevoll, teils idyllisch, teils ironisch, teils sarkastisch, so setzte er sich und seine Sujets dabei einem unerhörten und – für den damaligen Geschmack – völlig neuen Realismus aus, auch wenn er noch kleine formale Elemente der höfischen Rokokokunst verwandte: Bezüge auf das Schäferspiel, auf die Mythologie, auf die beliebte Vermischung beider. Wenn am höfischen Schauspiel noch die Allegorie und die Apotheose im Mittelpunkt standen, so tauchten aber diese Elemente bei Bellman nur noch gebrochen auf. Und die schnell einsetzende Bellmanrezeption schlug sich schon bald mit der Frage der Identität von Künstler und Werk herum, was nur für moderne Künstler zutrifft. Für Walter von der Vogelweide oder François Villon wäre die Frage nach Identität von Künstler und Werk obsolet, für moderne Künstlerinnen und Künstler steht sie im Zentrum ihres Schaffens und ihrer Rezeption. Und auch wenn Bellman sein Einkommen über den Hof bezog, war seine Kunst an ein bürgerliches Publikum gerichtet in der Illustration bürgerlicher Personnage. Zwar war diese Illustration nicht frei von Häme und betraf nicht die gehobenen Schichten, zu denen Bellman sich wohl selbst zurechnen durfte und die sich über die Darstellungen amüsierten und lustig machten; aber was illustriert wurde, war bürgerliches (und vielleicht auch schon proletarisches) Leben. Bellman war sich dabei sehr wohl der diversen Diskrepanzen und Widersprüchlichkeiten bewusst, wenn er einerseits als Vortrags- und Unterhaltungskünstler, sowohl was Virtuosität beim improvisierten Reimen wie auch beim Spiel der Cister als auch was Arrangements und Zeremonienmeisterei bei dramatischen Einlagen und Lustspielen bei Festen und Gesellschaften betrifft, gesucht und begehrt war, andrerseits er aber seine Epistlar als ein Werk auffasste, das sein künstlerisches Vermächtnis und opus magnum war. Als dieses Werk dann endlich 1790 vollständig erschien (und gleichzeitig unvollständig, denn schon in den Siebzigerjahren hatte er sich erbötig gemacht, einhundert dieser Fredmans Epistlar zu verfassen, in einem ersten Band fünfundzwanzig zum Druck bringen und drei Bände nachschicken zu wollen; nun kam es auf zweiundachtzig Gedichte), erlitt es auch das durchaus bekannte Schicksal einer Nachfolgepublikation; 1791 erschien Fredmans Sånger bloß noch aus der verlegerischen Absicht, an den Erfolg (der übrigens so überwältigend nicht war) des ersten Buchs anzuschließen. Auch darin finden wir Züge der Moderne, der bürgerlichen Gesellschaft. Wir werden diesen Zügen in den Gedichten selbst noch nachforschen und sie genauer betrachten, die vertrauten Inhalte einer Freizeitdichtung herausziselieren, den Realismus studieren, wir werden in diesen Gedichten sehen, wie der Blickwinkel der anbrechenden bürgerlichen Epoche Frau und Natur darstellen lässt, ich werde ein bisschen aus der Schule plaudern und über das Übersetzen von Gedichten schwätzen, aber zuerst müssen wir uns Klarheit über den Begriff der Moderne verschaffen.

Was aber ist das: Moderne?

Bellman war ein Kind der Aufklärung, ein Zeitgenosse Kants und Linnés. Das mag wohl heißen, dass er uns mental oder gesellschaftlich sicher näher steht als seine Vorgänger vor hundert Jahren, aber rechtfertigt dies den Gebrauch des Begriffs „Moderne“? Meines Erachtens kann der Begriff durchaus zu Recht verwandt werden, wenn wir uns dabei darauf einigen, dass er nichts mit der Bezeichnung in einer chronologischen Ordnung zu tun hat, unter der der Stil bürgerlicher Gesellschaft, der ab der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhunderts eben modern wird, erfasst wird. Ich verwende den Begriff der Moderne synonym mit dem Begriff des „modernen Ensembles“, womit ich das Prozessieren der verschieden konstitutiven Bestandteile der bürgerlichen Epoche insgesamt meine. Insofern ist auch mein Begriff der Moderne nicht geeignet, sich von einer wie immer auch definierten Postmoderne abzugrenzen oder diese negativ auf sich beziehen. Wenn mit Postmoderne als Begriff – zustimmend oder ablehnend – die Ästhetik des letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben wird, in Kunst, in Wissenschaft, in Diskursen und Verweisen, in einem neuen aktuellen Historismus, so hat dies mit Chronologie nur insofern etwas zu tun, als dass im Nachhinein die so genannte Moderne (in diesem Zusammenhang eingeschränkt verwandt in der Regel als der Modernisierungsschub der bürgerlichen Gesellschaft an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert) bedeutsam aufgeladen wird.

Kurz gesagt kann die Moderne als unsere bürgerliche Epoche selbst beschrieben werden, als ein gesellschaftliches Verhältnis, das durch folgende Bestandteile charakterisiert ist: durch Subjektivität mit eigener Unternehmung (also durch die Konstitution als Subjekt, was auch als Emanzipation bezeichnet werden kann) als Grundlage gesellschaftlichen Handels (was dann als Gesellschaft im engeren Sinn bezeichnet werden muss), durch kapitalistische Ökonomie, durch nationalstaatliche Organisierung (wobei die Staatlichkeit wieder auf der Grundlage von Subjektivität zu sehen ist, will man sie ganz begreifen), durch Öffentlichkeit als die Sphäre, in der die Subjekte sich bewegen und handeln, und durch ein spezifisches Verhältnis der Rechtlosigkeit, das sich am Beginn der bürgerlichen Epoche zuallererst an den Frauen bemerkbar macht, daneben aber auch alle anderen nicht Emanzipierten umfasst: So finden sich plötzlich außereuropäische Gesellschaften, die vordem noch mit gleichem Respekt behandelt wurden wie die europäischen, also afrikanische, indische und andere asiatische Reiche, einer sehr modernen rassistischen Beschreibung ausgesetzt, die die Eroberung oder wenigstens Ungleichbehandlung legitimiert, weil ihnen eben als nicht Emanzipierten das gleiche Recht versagt wird, sie aus der Gesellschaftlichkeit als erst zu Zivilisierende ausgeschlossen sind; ebenso wie nun in unseren modernen Beziehungen die Frauen von der Öffentlichkeit, also der Gesellschaft, noch immer mit allerlei Anstrengungen ferngehalten werden. Waren in vormodernen Zeiten Königinnen, Fürstinnen, Zarinnen nichts wirklich Besonderes, so stellt nun die Bundeskanzlerin oder Ministerin noch immer den Skandal dar, dem mit der Frage, wie sie dies alles vereinbare als Frau und Mutter, höhnische Rechnung getragen wird.

Diese Bestandteile stehen in keinem hierarchischen, von einander ableitbarem Verhältnis, sondern prozessieren untereinander, wobei ein jeder dieser Bestandteile mit dem Beginn der bürgerlichen Gesellschaftlichkeit, mit dem Beginn der modernen Epoche fertig, wenn auch nicht global, vorhanden ist. Äußerliche Merkmale dieser neuen Epoche sind Urbanität, die dem Umstand geschuldet ist, dass das Land, dass Grund und Boden nicht mehr als alleinige, prominente, gesellschaftlich bevorzugte Ressource für Einkommen gilt, und eine klassenmäßige Gliederung der Bevölkerung, die auf der Grundlage von Einkommen, die der industriellen Produktion in der einen oder anderen Art und Weise entspringen, vollzogen wird. Daneben tritt eine neue Sichtweise auf die Welt hinzu, die die neuen Beziehungen wissenschaftlich – auch eine Errungenschaft der Moderne – legitimiert und sanktioniert und als Realismus in der künstlerischen Darstellung hinfort zur alles dominierenden Frage wird. Welche Darstellung ist „realistischer“, die altmeisterliche perspektivische, die pointillistische, die die Erkenntnisse der Optik anwendet, die abstrakte bis hin zur surrealistischen, die die tiefere Realität der psychologischen Sicht berücksichtigen? Ist ein Gemälde realistischer als eine Fotografie? Diese Frage des Realismus aber wird zur Legitimation der neuen Verhältnisse insofern, als der Realismus nun wissenschaftliche und damit naturgesetzliche Omnipotenz erhält und die gesellschaftliche Organisierung auch nur als etwas Reales, von der Natur Vorgegebenes erlebt, betrachtet und dargestellt werden kann. Kompetenz in der Darstellung – sei es wissenschaftliche, sei es künstlerische – bezieht sich nun darauf, die Realität möglichst genau abzubilden. Dass dies einmal eine unerhörte Herangehensweise war, ist uns heute schon unverständlich.

Die Moderne aber in diesem historischen Sinne zeichnet sich durch bis zu ihrem Beginn unerhörte Verhältnisse und Beziehungen aus. Das Leben, das die Leute bisher führten, galt zum großen Teil nicht mehr, alle Werte und Gewohnheiten wurden umgestürzt. Die gesellschaftliche Dominanz wurde nun von der Stadt ausgeübt, aber nicht mehr, weil der Hof des Königs in der Residenz Adel und Vernunft an sich gezogen hatte, sondern weil sich die Produktion industrialisierte und in der Stadt ansiedelte und nicht mehr die agrarische Ernte den Reichtum einer Gesellschaft erzeugte. So entstand der Typus – oder mit der Wortwahl dieser Gesellschaft gesprochen – die Klasse der Stadtbewohner. Diese Städter (und Städterinnen, wenn auch am Beginn der neuen Verhältnisse es die Männer waren, die öffentlich sprachen, hörten und sahen) hatten in der Folge auch einen neuen Blick auf das die Stadt umgebende Land entwickelt. Das Land war nun nicht mehr vertraut, es wurde zunehmend exotisch. Es war zwar noch als Lieferant von Lebensmitteln bekannt (siehe 48. Bericht), die in eine Stadt gebracht wurden, die selbst noch in ihren Höfen kleine Anbauflächen und Kleinviehställe hatte, dazu entwickelte sich das Land aber auch zum Ausflugsziel, das an Erholung anbot, was die Stadt nicht mehr geben konnte: frische Luft, Ruhe, Stille. Daneben aber mutierte der Bauer zu einem Eingeborenen einer fremden Umgebung, in der der Städter Reisender war (80. Bericht).

Das Ancien Régime hatte zum Land noch eine viel innigere Beziehung, war doch das standesgemäße Einkommen an Grundbesitz gebunden (in zweiter Linie dann an das Hofamt, wichtigere Hofämter aber wieder an den Grundbesitz). Diese Bindung spiegelte sich auch in den Vergnügungen des Adels wieder, in der Jagd und in den Schäferspielen, auch wenn beides im Laufe der Zeit kanalisiert wurde in den Jagdrevieren und auf der Bühne, wobei Hirten und Schäferinnen bukolisch idealisiert wurden und auch Nymphen und andere mythologischen Gestalten ihre Auftritte hatten. Die bukolische Dichtung wurde wohl schon in der Barockzeit von Dichtern bürgerlicher Herkunft ausgeübt, aber im 18. Jahrhundert hatte sie ihren agrarisch-höfischen Bezug endgültig verloren. Die Verbindung zwischen Vergnügen und Land stellte sich nun über die Reisen, die Landpartien, die Ausflüge her.

Das Land gab nun nicht mehr den Hintergrund für die theatralische Unterhaltung des Schäferspiels ab, angereichert durch antike Mythologie, war nicht mehr die Idealisierung des Grundbesitzes und des adligen Einkommens durch die anmutige Nachahmung der bäuerlichen Bevölkerung, die oft auch als Vorlage für Spott und Spaß dienen musste. Für die bürgerliche Gesellschaft entstand Einkommen nicht mehr aus dem Grundbesitz und so wurden ihr die, die den Grund betreuten und den Boden bebauten, zunehmend fremder und die Landbevölkerung selbst – Bauern, Fischer, Jäger – erschien ihr auch als Teil der Natur (siehe etwa 32. Lied). Kein Wunder also, wenn nun der Bezug zum Bäuerlichen und Bukolischen durch den Bezug zur Natur (als von der Stadt zu entdeckender und zu zivilisierender oder zu besuchender Raum) abgelöst wurde3, in der theatralischen Unterhaltung aber, die nun nicht nur am Hof, sondern auch in den Salons ausgeübt wurde, durchaus in Nachahmung der höfischen Unterhaltung, wo die Unterhaltung nicht zuletzt darin bestand, die Typen und Gestalten auch selbst zu spielen und darzustellen, die komischen Figuren immer weniger bäuerlich denn kleinbürgerlich waren, die gehobeneren bürgerlichen Schichten (denen sich Bellman wohl zugehörig fühlen musste) sich nun an den bürgerlich, plebejisch oder proletarisch gezeichneten Gestalten ergötzten (siehe 2. Lied oder 48. Lied, kleine Werke, die auf einen größeren Zusammenhang verweisen, auf Dramolette, die in den Salons zum besten gegeben wurden und deren Regisseur und Zeremonienmeister Bellman war, die aber von den Anwesenden wohl mit aufgeführt wurden). Aber die Vergnügungen, die solche Aufführungen wie zum Beispiel „des Bacchi Konkurs“ boten, erhielten ihre Komik wohl aus dem Einbruch des Realistischen, das die Parodie eines Bacchus vor dem Konkursgericht als zu Grunde gegangener Säufer erst möglich machte.

Bellman steht hier mit Werken dieser Art noch etwas schillernd zwischen alten Traditionen und neuen Zeiten da, ähnlich vielleicht wie sein Zeitgenosse Mozart: Wo aber Bellman in seiner Dichtung, die nicht Unterhaltung zum Zweck hat, sondern die Schilderung der Unterhaltung zum Inhalt, kompromisslos modern ist (wohl ohne es zu wissen, ohne davon einen Begriff zu haben), das ist in seiner Darstellung der Frauen. In der bürgerlichen Öffentlichkeit, in Gesellschaft und Geselligkeit, gibt es die Frauen, verglichen mit den vormodernen Zeiten, praktisch nicht mehr. Verglichen eben mit unseren Zeiten gab es davor Frauen, die offen in der Gesellschaft (wenn wir diesen Ausdruck einmal für andere als unsere sozialen Verhältnisse verwenden wollen) auftraten, manchmal mit anderen Rechten als die Männer, manchmal mit den gleichen, als Burgfrau, Meisterin, Königin, Fürstin, Freifrau, etcet. Erst in Zeiten, denen eine erfolgte und erfolgreiche Emanzipation vorauszugehen hatte, damit ein öffentliches Auftreten überhaupt erst denkbar war, verschwand die Frau, verschwanden die Frauen aus der Öffentlichkeit. Sie waren nicht emanzipiert, sie gehörten mit ihren alten Rechten quasi zum Ancien Régime, im Nouveau Régime, das nun die unternehmerischen Männer (zunächst gegen die Fürsten, dann gleich in der ganzen Welt) auszuüben antraten, waren die Frauen nur noch für das Wohlbehagen der Männer zuständig. Sie waren nicht emanzipiert, daher nicht in der Öffentlichkeit, sondern sozusagen „logischerweise“ oder auch „natürlicherweise“ nur in der Privatheit anzutreffen; nicht in der Unternehmung, sondern in der Familie, nicht in der Produktion, sondern in der Freizeit.

Und so kommen Frauen bei Bellman hauptsächlich als Schankdirnen, als Angestellte der Freizeitbetriebe, als Liebesdienerinnen vor. Frauen waren für das Behagen der Männer da, sei es als Ehefrau und Mutter, sei es als Angehörige des Wirtshauses, als Bordellmadame oder Prostituierte. In einigen Gedichten finden wir auch Ehefrauen, zum Beispiel im 23. Bericht, wo der besoffene Fredman sich im Rinnstein darüber beschwert, von seinem Vater gezeugt und seiner Mutter geboren worden zu sein. Das Kind aber, das nun erwachsen im Rausch raisonniert, ist ein eheliches. Für den Dichter muss es immer noch gesittet nach bürgerlicher Ordnung zugehen, auch wenn der beschriebene Säufer oder wohl Alkoholiker nicht gerade zum Vorbild gereicht. Der Protagonist dieses sehr düsteren Gedichts will immer Spross einer ehelichen Verbindung sein, wenn er sie beklagt (die Erfüllung ehelicher Pflicht, die ihn erst auf die Welt brachte) genauso wie wenn er sie in der Euphorie des neuen Rausches, der den Kater bändigt, lobt. Und auch im 57. Bericht wird eine Mutter erwähnt, die eines gesunden Knaben entbunden hat und nun den Vater mit der frohen Nachricht losschickt, um das Kindstauffest standesgemäß zu organisieren. Aber der Held all dieser Strophen ist dann der Kindsvater, der mit freundlich gezeichneter Ironie bedacht wird, während die (namenlose) Mutter nur noch Erwähnung findet, weil sie neben dem Knaben auch einen hervorragenden Schnaps zu Wege gebracht hat.

Die Honorigkeit von Verhältnissen, in denen Frauen ehrbar durch das Verschwinden in der Ehe werden, wird auch im 48. Bericht spürbar: Zwar macht man neben einer idyllischen Schilderung der Gestade des Mälarsees seine Witze, die durchaus Männerwitze sind, aber betont wird dabei, dass Ulla Winblad nun mit Norström verheiratet ist; vielleicht war das Fest, von dessen Heimreise sich die Leute im Boot befinden, ja deren Hochzeitsfeier. Auch der 60. Bericht, der eine Gerichtsverhandlung wegen Ehebruchs zum Inhalt hat, macht sich zwar über Bestechlichkeit der Richter und die Trinkgewohnheiten der Anwälte, die im Rausch beschwören, was der Vorsitzende hören will, lustig, lässt aber das Bild der bürgerlichen Ehe unangetastet. Zwar fällt das Urteil nicht so aus, wie die betrogene Ehefrau erwartet hat, aber die bürgerliche Ehe wird nicht in Frage gestellt.

Daneben fällt grell das Bild ab, das Bellman zeichnet, wenn es um Prostituierte geht. Im 35. Bericht lässt er Fredman die Untreue seiner Freundin beweinen. Da ist der Liebeskranke der Zuhälter, der ihr die Polizei fernhielt und ihr uneheliches Kind im Waisenhaus unterbringt, im 52. Bericht lässt Bellman die Freundin von Movitz sterben und ihn von Fredman trösten: Er solle sich mehr an das Trinken als an die Frauen halten, jetzt wo er frei ist. In diesen Fällen sind die Frauen nicht verheiratet, sind also frei und unabhängig. Zwar sind sie noch immer für das Wohlbehagen der Männer zuständig, aber in gewisser Weise in einer Öffentlichkeit, die zwar verpönt und abgedrängt ist, dennoch nicht so verborgen wie das private Heim, in das man nur nach Einladung Zutritt erhält. Wirtshaus, Ballsaal und Bordell aber sind öffentliche Betriebe und werden ohne Einladung betreten, was dann auch damit einhergeht, dass der Mann, der sich dort aufhält, die Frauen nicht besitzt. Es ist wohl diese gesellschaftlich verdächtige Freiheit, die ihre Faszination auf die Männer ausübt, die Freiheit von Frauen, die noch nicht im bürgerlichen Sinne auf anständige und vernünftige Weise emanzipiert sind, aber schon ein Selbstbewusstsein, auch durch Erwerbsarbeit, entwickelt haben, das ihre erotischen Reize verstärkt; die wirkliche, historische Ulla Winblad war Arbeiterin in einer Seidenfabrik; ein ähnliche Verbindung von Erwerbsarbeit und erotischer Anziehung war im alten Wien eben dieser Zeit bei den „Wäschermädeln“ (oder deren Mythos) vorzufinden.

Die Beschreibung all dieser neuen Verhältnisse macht Bellman zum modernen Dichter, der uns selbst heute noch vertraut ist, auch wenn der eine oder der andere seiner Helden eine Perücke trägt oder sonst etwas tut, was wir heute nicht mehr verstehen. Was wir aber verstehen, ist der gnadenlose Realismus, mit dem Bellman, wenigstens in den Berichten, den Epistlar, seine Bilder malt. Das will ich im nächsten Kapitel noch ein wenig beleuchten.

Berichte und Lieder

Das Werk Bellmans ist sehr umfangreich4, aber ich glaube, nicht fehl zu gehen, wenn ich behaupte, Bellman hätte die Berichte – oder, wie er es nannte, die „epistlar“, die Episteln – als sein wichtigstes, als sein einziges erwähnenswertes Werk angesehen. Jedenfalls war es das einzige, um dessen Drucklegung er sich zweimal bemühte. Ansonsten beließ er es bei schönen kalligrafierten, von Künstlern illustrierten Abschriften von Gedichten, die er binden ließ und verschenkte, wohl in der Erwartung der üblichen Gegengaben und Protektionen. Aber der Druck der Epistlar, mit den Noten und nicht für Freunde und Gönner, sondern für Öffentlichkeit und Publikum, war eine ganz andere Sache. Hier stand Bellman vor der Aufgabe, seine Werke für sich selbst sprechen zu lassen; kein Fehler konnte durch die Virtuosität seiner Vortragskunst und seiner Improvisationsgabe übertüncht werden. Bellman war sich auch wohl des neuen, unerhörten Tons, des Volkstons bewusst, den er angeschlagen hatte, und er reagierte verletzt, wenn er deswegen kritisiert wurde. Ab 1773 versuchte er, die Epistlar zum Druck zu bringen, verschenkte handgeschriebene Ausgaben, in denen er seinen Plan, vier Bände zu je 25 Gedichten zu verfassen, ankündigte, und hatte im Juli 1772 das königliche Privileg beantragt, Bellmans poetische Arbeiten drucken zu lassen, um sich vor unberechtigten Raubdrucken zu schützen.5

Bellman war sehr anspruchsvoll, was die Gestaltung der Bücher betraf, und der Drucker Holmberg, mit dem Bellman verhandelt hatte, war anspruchsvoll, was die Kosten betraf. Es kam zu keiner Einigung und wenn es zu einer Einigung gekommen war, hatte Bellman sie bestritten. Jedenfalls war erst das Jahr 1790 das der Veröffentlichung der Epistlar. Der Komponist, Verleger und Organist Olof Åhlström hatte eine Methode erfunden, Noten zu drucken, die billiger war als der Kupferstich, und wollte seine Erfindung erproben. In diese Zeit fällt auch eine Versöhnung mit dem Dichterkollegen Johan Henrik Kellgren, der einst Bellman attackiert und verhöhnt hatte. Kellgren war ein Vertreter des klassischen, an französischem Vorbild geschulten Stils und hatte Bellman wegen dessen Sujets angegriffen. Die Beschreibung des Lebens der kleinbürgerlichen und proletarischen Schichten, vor allem des Lebens der Freizeit, war nach seinem Urteil kein Gegenstand der Dichtung und Bellmans Sprache diesem poetischen Unding angepasst, das Talent vergeudet. Ob es, wie manchmal kolportiert, zu einer späten Freundschaft zwischen den beiden Poeten gekommen ist, mag dahin gestellt bleiben. Jedenfalls erklärte sich Kellgren bereit, an der Endredaktion der Epistlar mitzuwirken und schrieb ein Vorwort, in dem er im letzten Absatz Abbitte leistete, ein Ereignis, das in der Konkurrenz zwischen Künstlern in dieser Form selten anzutreffen ist und das darum zitiert werden soll: „Wenn Künstler, obwohl von Natur aus Freunde und getreue Richter, dies nicht immer sind, so liegt eine Hauptursache hierfür zweifellos in dem beschränkten und falschen Urteil der Allgemeinheit, ihrem Hochmut gegenüber dem Rang des Genies, und ihrem allzu geringen Vermögen, dem einen Achtung zu erweisen, ohne sie den anderen zu entziehen. Stockholm, den 6. Oktober 1790, J. H. Kellgren.“ Kellgren ist auch der 80. Bericht gewidmet.

So war Bellman in gewisser Weise schon zu Lebzeiten rehabilitiert (nach seinen Lebzeiten rehabilitiert ihn wohl der Umstand, dass wir von Leopold oder Kellgren zwar aus den Lexika wissen, aber Bellmans Lieder noch heute gesungen werden) und dem neuen Ton war nachträglich Anerkennung gezollt worden. Es wird wohl dies gewesen sein und nicht gerade der ohnehin nicht überwältigende Absatz, was Åhlström zu einer zweiten Ausgabe von Werken Bellmans veranlasst hatte, den Liedern oder Sånger. Hier hatte der Freund Bellmans und Komponist Joseph Martin Kraus mitgeholfen, die Melodien zu setzen, während dies im ersten Band Åhlström nach den Angaben Bellmans unternommen hatte, wobei die Eigentümlichkeiten des bellmanschen Vortrags geglättet wurden und Åhlström später eine Eigenständigkeit der Kompositionen Bellmans bestritt (die aber von Kellgren herausgestellt wurde – sowohl was die Komposition eigener als auch die Bearbeitung vorhandener Melodien betrifft).

Die Sånger waren eher eine Kompilation von verschiedensten Stücken. Einfache Trinklieder, denen jeder Vorwand recht war, um am Schluss des Liedes in ein allgemeines Skål auszubrechen, und deren inhaltliche Schlichtheit wohl den Liedern aus den Kommersbüchern späterer Studentengenerationen entspricht, stehen da neben kleinen und größeren, vignettenartigen oder fast philosophischen Gedichten. Aber auch kleinere Unterhaltungsstückchen, richtige Dramolette sind da zu finden, die zur Belustigung aufgeführt wurden, sei es, um sich selbst am Vortrag zu beteiligen, sei es, um sich am Vortrag Bellmans, der ja verschiedene Rollen gleichzeitig darstellen konnte, zu ergötzen. Oft hatten diese kleinen Stücke reale Figuren zum Vorbild wie etwa im 2. Lied. Erik Lundholm, der hier zum Ritter Bacchi geschlagen wird, kam noch einmal zu literarischen Ehren, als anlässlich des Todes des stadtbekannten Branntweinbrenners (und großen Trinkers) Bellman eine komische Trauerfeier verfasste, die in dem Buch Bacchi Orden enthalten ist. Petter Magnus Appelstubbe und Agrell waren Kollegen Bellmans beim Zoll (Bellman war bei der königlichen Zolldirektion von 1766-1772 angestellt), Österman und Halling, Möbeltischler und Zuckerbäcker, waren honorige und gewiss nicht arme Handwerker oder doch schon Kleinunternehmer, die alle offensichtlich ihre Ritterschläge durch Bacchus in einer allgemeinen Unterhaltung feierten. Steindecker oder Stendecker aber war Königlich Schwedischer Paukenschläger, berühmt für seine Wirbel auf der großen Pauke und für ungestümes und brutales Auftreten, auch gegenüber Frau und Schwiegermutter. Dass hier die Personen offen genannt werden, hat sicher mit dem gesellschaftlichen Rahmen zu tun, in dem solche Veranstaltungen aufgeführt wurden: eine angesehene, wohlbestallte, gutbürgerliche Gesellschaft, die sich unterhalten wollte und dies auch auf lateinisch – wenigstens zitatenhalber – kann. Auch die Stücke „Aus den Akten von des Bacchi Konkurs“, von denen in dieser Sammlung zwei übersetzt wurden (48. und 49. Lied), haben den Charakter des Geselligen und Unterhaltsamen.

Ganz anders aber die Epistlar, deren Realismus nicht mehr unterhalten will, sondern die Unterhaltung selbst zum Sujet hat. Hier sind es keine Trinklieder, sondern Lieder über das Trinken, nicht mehr eine ironische, lustige Aufforderung zur Geselligkeit und zum Umtrunk, sondern eine derbe und satirische Darstellung der Sauferei in Wirtshaus und Bordell. Und wenn auch dieser Band mit 82 (statt der ursprünglich geplanten 100) Gedichten stärker ausgefallen ist als der zweite mit 65, so stellen diese 82 Gedichte doch nur einen kleineren Teil im Gesamtwerk Bellmans dar. Dabei sind sie aber die, die inhaltlich am stärksten sind und am meisten berühren. Auch dort, wo das Derbe, Satirische zu Gunsten einer wohlwollenden, liebevollen Zeichnung der kleinbürgerlichen Gestalten des Stockholms der zweiten Hälft des 18. Jahrhunderts zurücktritt, finden wir eine höchst realistische Darstellung wie etwa im 48. Bericht, wo sich die urbanen Regionen Stockholms mit seinem ländlichen Umfeld mischen, wo die verschiedenen Tätigkeiten und Arbeiten geschildert werden, Spital, Manufaktur, Zuchthaus, Markt, Stadtzoll, Schmied und Garnison, Waschmagd und Wasserknecht, müde Heimkehr nach einem Ausflug mit durchzechter Nacht.

Hier zeigt sich der Dichter nicht nur auf der Höhe seiner Meisterschaft – die beweist er auch bei Dichtungen, die des neuen, bürgerlichen Realismus zur Gänze entbehren, etwa in dem berückenden 32. Lied, das zum Anbruch der Nacht zu singen ist und wo die Menschenpersonen wie Bauer, Hirt und Jäger im Bukolischen und in der Ansammlung mystischer Figuren verschwinden –, hier zeigt er sich auch mit dem scharfen und unbestechlichen Blick auf den Gehalt seines Werks und er weiß wohl um den Unterschied zwischen den Epistlar  und allem anderen, das er geschrieben hat. Ich bin versucht zu sagen, dass wir hier am Gesamtwerk Bellmans wieder Züge der Moderne antreffen in einer – vielleicht auch nur in der Rückschau aus unserer Zeit und Rezeptionsgeschichte – sich abzeichnenden Trennung von E und U in der Kunst.6 Und auch wenn er die neue, unerhörte Art der realistischen Schilderung sich zu eigen macht und sie einem Publikum nahe bringen möchte, so reizt er diese Möglichkeiten gleich so weit aus, dass sie auch seinem Vortragsgenie entsprechen. Wenn dann beispielsweise im 35. Bericht die Klage des von Anna Greta verlassenen Fredman eingebettet ist in ein Wirtshausgeschehen, das von den insgesamt fünf Strophen gleich zwei für sich beansprucht, so ist dies nicht nur der Hintergrund, auf dem Fredman lamentiert und seinen Liebeskummer im Alkohol ersäuft, ist nicht nur für Bellman der Vorwand zu seiner Darstellungskunst, die das Gepöbel und Getümmel in der Schank mit dem Schmerz des Verlassenen kontrastiert, sondern auch eine Folie für psychologische Interpretationen der Einsamkeit wie auch der Versuch, der Forderung des Realismus nach größtmöglicher Genauigkeit gerecht zu werden (was später seine Höhepunkte in beispielsweise „Ulysses“ oder „Der Mann ohne Eigenschaften“ erreichen soll).

Aber die realistisch beschriebene Freizeit bringt noch etwas mit sich, das bisher so nicht wahrgenommen wurde. Zeit nach der Arbeit, nicht mehr abhängig von Jahres- und Tageszeit, sondern frei vom Regime des Arbeitshauses, der Manufaktur und der Fabrik, wird zur Möglichkeit, zu feiern. Das Wort Feierabend – ursprünglich wohl der Abend vor dem Festtag (in der religiösen Tradition beginnt der neue Tag mit dem Einbruch der Nacht, womit der alte Tag zu Ende geht, daher beispielsweise der Beginn der Weihnachtsfeiern mit der Christmette am Heiligen Abend, der Osterfeiern mit der Liturgie in der Osternacht, die auf den Karsamstag folgt, aber auch das Sabbatmahl beginnt, wenn der Tag der Nacht gewichen ist) – erhält nun seinen neuen Klang: Am Abend, nach getaner Arbeit, wird gefeiert. Das Fest wird also seiner religiösen Inhalte entkleidet, nicht mehr an den Kalender der Feiertage, sondern an die arbeitsfreie Zeit gebunden. Die Folge ist, dass das Fest nun eine Angelegenheit des Alltags geworden ist, gefeiert wird, wann grad eins will, Zeit, Lust und Geld dazu hat. Der tägliche Rausch wird die religiöse Ekstase ablösen, das Tanzvergnügen an jedem Samstag die jahreszeitlichen Feste. Wenn aber die Einteilung der Zeit zur Privatveranstaltung wird wie auch das Datum für das Feiern, dann wird das Fest – wenigstens der Möglichkeit nach – immerwährend. Und dann wird der Tod plötzlich zum Skandal, zum böswilligen Einbruch in das – profane, nicht religiöse – Fest des Lebens. Ebenso bricht der Tod in die Dichtung Bellmans ein, wird realistisch beschrieben und gleichzeitig verdrängt.

Der Tod ist nicht mehr Übergang zur Ewigkeit, sondern Zerstörung der Zeit, die Zeit vor dem Tod dient nicht mehr der Besinnung, sondern der Verleugnung. Ganz deutlich wird das im 21. Lied, das der Form nach noch an den altertümlichen Totentanz gemahnt, aber jeder Besinnung entbehrt. Dem Geizhals, dem Schürzenjäger, dem Kriegsmann, dem Eitlen, ihnen allen wird nicht zugerufen, sie sollten an den Tod denken, umkehren und ihr Leben gerechter einrichten; ihnen wird nur der klägliche Trost zu Teil, dass sie einkehren, noch einige Schnäpse trinken, den Tod ignorieren und einzig beherzigen sollen, dass sie sich im Wirtshaus gut benehmen. Diese neue Beziehung zum Tod, die in das urbane Denken und Fühlen Eingang findet, wird von Bellman auch aufgenommen und verarbeitet, weil sie in der realistischen Darstellung des unerwünschten Endes und der psychologischen Dimension der Verdrängung zu seinem Sujet der neuen, modernen Gesellschaft gehört (siehe etwa 30. Bericht).

Dieses bisher Ungehörte, dieses Unerhörte an Bellmans Dichtung, der bürgerliche Realismus, der eine neue Sicht mit sich bringt, die nach einer neuen Sprache für neue Themen verlangt, ist das, was das Werk der Epistlar zu einer geschlossenen Einheit macht. Wir müssen uns aber davor hüten, diesen Realismus als getreues Abbild, als historisch-materiale Schilderung zu begreifen. Das beginnt schon mit der namensgebenden Figur des Fredman. Der historische Fredman, Johan Fredrik Fredman (1712 oder 1713-1767) war ein Uhrmacher, der mit seinem Betrieb 1752 Pleite gemacht hatte, nachdem im selben Jahr seine Ehefrau gestorben war, deren reiche Mitgift er veruntreut hatte, worüber auch ein Prozess geführt wurde. Sein Eigentum wurde eingezogen, der Titel Hofuhrmacher (er hatte einige der Stockholmer Türme mit Uhren ausgestattet) aberkannt. Bellman beschreibt ihn in der Vorrede zu Fredmans Episteln als „namhafter Uhrmacher in Stockholm ohne Uhr, Werkstatt und Laden“. Dass dieser Fredman als spritus rector der Trinker und Dirnen Stockholms nun durch das Werk geistert und in seinen Berichten das Völkchen beschreibt, charakterisiert, verspottet, aber auch – vor allem in der Figur Ulla Winblads – erhöht, hat mit dem realen, eben erst verstorbenen Fredman nichts zu tun. Es ist wohl so, als würde ein Wiener Dichter eine Sammlung von Betrachtungen des lieben Augustin über Spelunken, Zecher und deren Erlebnisse herausbringen, was mit den realen Taten und Erlebnissen des Marx (Markus) Augustin (1643-1685) auch nichts zu tun hätte.

Ebenso waren andere Figuren wie Mollberg (1734-1772) oder Movitz (1721- 1771) bloß eine Folie für die Figuren, die in den Epistlar auftauchten. Oft stellt sich die Frage, ob nicht Bellman einfach einige Namen quasi auf der Straße gefunden hatte und diese Namen dann auf die Figuren, die er geschaffen hatte, und schließlich – im Falle Movitz – auf sich selbst übertragen hatte. Der bellmansche Movitz ist nicht nur ein begnadeter Virtuose auf allen Instrumenten, sondern auch noch ein Maler wie im 45. Bericht.  Diese Figuren jedenfalls sind realistisch insofern, als solche Typen überall anzutreffen sind, egal wie sie heißen mögen. Hier sei aus dem eingangs erwähnten Bellmanband aus der verwichenen DDR zitiert7: „So schreibt beispielsweise P. D. A. Atterbom (1790-1855), Bellmans erster Biograph: ,Es war schwer, mit ihm bekannt zu werden, ebenso schwer, wie ihn zu irgendeinem Gelage zu locken, und nur seinen intimsten Freunden gelang es, wenn sie es fein anstellten, ihn mit sich zu führen und ihn zum Trinken und Singen zu bewegen. Sein Wirtshausleben bestand darin, dass er bei einer Flasche Halbbier und einer Pfeife stundenlang in einer Ecke saß, das Gewimmel betrachtete und die Originale zu seinen Figuren studierte.‘“ Der Biograph spricht hier vom Wirtshausleben, das Bellman wohl aus eigener Anschauung kannte, aber eben eher als Beobachter, fühlte er sich doch den höheren gesellschaftlichen Schichten und deren Vergnügungen zugehörig. Dass aber auch in den Salons gerne und ausgiebig getrunken wurde, ist dann an anderer Stelle belegt. Dem Biograph war es an dieser Stelle wohl darum zu tun, die Ehrbarkeit und Solidität Bellmans herauszustreichen. Wie weit dann die Tätigkeiten und Eigenschaften der bellmanschen Figuren von ihrem Hintergrund abgesehen ihren Vorbildern gleichen, mag dahingestellt bleiben und ihre Charakteristika, die Bellman jeweils als erstes Stück von Epistlar und Sånger abgibt, erscheinen merkwürdig aufgesetzt und konstruiert, vielleicht auf Wunsch des Verlegers. Jedenfalls haben wir es immer mit lustigen Charakterisierungen der Figuren zu tun, die humorvollen Eintragungen in Stammbüchern oder Familienalben ähneln. Das Personal der Epistlar ist dabei allegorischer, allgemeiner, unrealistischer beschrieben, auch wenn die Personen Namen aus der Wirklichkeit tragen, der Realismus kommt aber in der Darstellungen der Szenen, unabhängig davon, wie die Figuren heißen und ob sie der Eingangsbeschreibung entsprechen, zum Tragen.

Ulla Winblad (die nur in den Epistlar vorkommt, in den Sånger besteht das Personal durchwegs aus Menschen, die in Bellmans Leben ihre realen Rollen spielten als Schuldner, Kumpane und Genossen der Vergnügungen und als Mitspieler oder dramatis personae der Aufführungen und Mitglieder des Bacchusorden) stellt in diesen Bellmanfiguren einen Sonderfall dar, insofern als sie mit ihm bekannt war. Sie hieß Maria Kristina (Maja Stina) Kjellström (1744-1798), war Arbeiterin in einer Seidenmanufaktur und soll noch zur Zeit ihrer zweiten Ehe mit einem elf Jahre jüngeren Mann (Erik Lindståhl) in ihren Vierzigern eine Frau von ausgeprägter Schönheit gewesen sein. Sie musste seit ihrem 14. Lebensjahr für sich selbst sorgen, erst als Dienstmagd, mit 19 Jahren wird sie als Seidenkämmerin geführt. Ihr vorgeblicher Ruf als Prostituierte rührt daher, dass sie eine Beziehung mit einem jungen Adligen einging, der allerdings sein Eheversprechen nicht einlöste. Das Kind dieser Verbindung starb nach acht Tagen. Sie nannte sich manchmal nach dem Mädchennamen ihrer Stiefmutter Maja Stina Winblad. Dies alles und auch eine polizeiliche Verfolgung dürfte ihren Ruf beeinträchtigt haben, ihr Kontakt mit der Polizei bezog sich aber nicht auf Prostitution, sondern auf einen Verstoß gegen die Kleidervorschriften. Sie wurde verhaftet, weil sie einen Seidenumhang trug, was dem Gesetz nach Frauen ohne feste Anstellung und Dienstmägden verboten war. Sie konnte jedoch nachweisen, dass ihr Dienstverhältnis als Seidenkämmerin im Haus des Fabrikanten (also bevorzugt gegenüber den Arbeiterinnen, die in der Manufaktur spannen) ihr das Recht zu ihrer Kleidung einräumte. Bellman brachte sie 1772 mit seinem Jugendfreund Erik Nordström (dem Norström der Epistlar) zusammen, dem er auch eine Anstellung beim königlichen Zoll verschaffte. Die Ehe war nicht glücklich, zwar war Nordström nicht arm (er hielt zeitweise Pferde und Knecht), aber er soff und war ein brutaler Ehemann, der seine Frau schlug. 1781 wurde sie Witwe und verheiratete sich 1782 zum zweiten Mal. Bezeugt ist, dass sie sich oft (mit Nordström) über Bellman und seine Darstellungen der Ulla Winblad beschwerte, die nur zu gerne auf sie bezogen wurden wegen ihres früheren Verhältnisses zum Oberst Wilhelm Schildt und wegen ihrer stadtbekannten Schönheit.

In Bellmans Gedichten selbst kommen aber mehrere Ulla Winblads vor. Von der nahezu anonymen Erwähnung im 9. Bericht, noch ohne Nachnamen als eine unter vielen Jungfrauen der Alten vom Thermopolium über verschiedene Darstellungen als Liebesdienerin, oft mythisch überhöht oder satirisch überzeichnet, hin zur jung vermählten Ehefrau spannt sich der Bogen, bis im letzten Bericht sie wieder verstanden werden kann als Salondame, die einen Ausflug organisiert, jetzt mehr als selbstbewusste Frau, die sich von ihrem Liebhaber bitten lässt. Auch die anderen Figuren schillern bunt und entsprechen durchaus nicht den eingangs vorgestellten Beschreibungen; im 35. Bericht etwa ist Vater Movitz nicht der sensible Künstler auf allen Gebieten mit schwacher Gesundheit, sondern Kneipwirt. Aber Bellman selbst, auch wenn er sich manchmal in privaten Briefen und Zueignungen als Movitz unterschreibt, kommt  in den Epistlar nicht vor, wenn uns die Rezeption auch manchmal anderes erzählen will; wieder Marquardt: „Und doch – jenes beklemmende Gefühl, das wir von der skandinavischen Literatur der Strindbergzeit her so gut kennen, steigt in uns auf, wenn wir wahrnehmen, wie Fredman-Bellman in einer Sommernacht des Jahres 1768 vor der Schenke Krypin“ und so weiter. Das andere Werk Bellmans, von dem eine kleine Auswahl in den Sånger versammelt wurde, kennt ihn sehr wohl; als Bittsteller am Hof, als Regisseur, Autor und Schauspieler von Dichtungen, die in der Loge Par Bricole, einer noch heute bestehenden literarischen Vereinigung lustiger Menschen, in der Bellman Mitglied war, aufgeführt wurden, als Sänger und Unterhalter, als Schuldner und als Genießer. In den Epistlar tritt er hinter der Beschreibung der Gesellschaft ganz zurück, oder wenigstens hinter der Beschreibung eines Bestandteils dieser Gesellschaft, ihres Treibens bei Vergnügung und Freizeit.

Wie unbestechlich dabei sein Blick ist, soll noch kurz im 23. Bericht beschrieben werden. Das Gedicht enthält den wehleidigen Monolog des Säufers, der nach der Sperrstunde in der Gosse liegt und auf das neuerliche Öffnen des Wirtshauses wartet. Schuld an seiner Misere ist er natürlich nicht selbst, sondern sind seine Eltern, die ihn in die Welt gesetzt haben. Abgelaufene Schuhe, zerrissene Kleider, Schwäche der Glieder, all dies ist Schuld der getreuen Erfüllung ehelicher Pflichten. Der Wein aber ist es, der ihm Labung bringt, der ihn dieses Leben ertragen lässt, zu dem er als neuer Heide betet. Diese Selbsterkenntnis des Säufers führt jedoch nur dazu, sich die nächste Dosis zu setzen, als die Kneipentüren sich am Morgen öffnen. Geradezu jubelnd wird das erste Glas des neuen Tages gefeiert, das ihm wieder Kraft verleiht, ihn strafft und schön macht. Die Welt ist in Ordnung, nachdem der Rausch wieder eintritt, der Alkoholpegel den richtigen Stand erreicht hat. In dieser Stimmung, in der dem Berauschten nichts mehr passieren kann, in der er stark und gesund ist, feiert er dann auch den Zeugungsakt der Eltern. So scharfsichtig dieses Gedicht über den Süchtigen auch ist, so typisch ist dabei wieder die Rolle der Frau: der larmoyante, selbstmitleidige Säufer macht vor allem die Mutter für sein Unglück verantwortlich, der wieder erstarkte, genesene Säufer würde gerne mit dem Vater weiterfeiern. Die Unbestechlichkeit Bellmans in seinen Epistlar zeigt sich also durch psychologisch genaue Beobachtungsgabe wie durch osmotische Aufnahme und unreflektierte Wiedergabe der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Warum diese Übersetzung?

Ich will cum grano salis beginnen. Ein alter Freund, den ich noch aus der Schulzeit kenne, meinte nach einem Vortrag einiger meiner Bellman-Übersetzungen, ich hätte mich dieser Mühe unterwunden, um auch ein bisschen in meine Liedermachervergangenheit zurückkehren zu können. Natürlich stimmt das bis zu einem gewissen Grad, aber letztlich sind meine Hervorbringungen dieser Zeit mit Fug und Recht vergessen und auch ich erinnere mich an sie oft gar nicht mehr oder weiß manchmal nur noch einen Titel oder eine Verszeile und wenn ich das ganze Lied noch parat habe, dann nicht mehr die Griffe auf der Gitarre. Bellman hat aber als Anknüpfungspunkt an meine Vergangenheit der Liedermacherei meiner späten Jugend nichts zu tun, eher führt er mich in die Frage zurück, was Dichtung ausmacht. Das war es auch, was mich geleitet hat, als ich mich an die Übersetzungen machte.

Zunächst möchte ich sagen, warum ich auf der Bezeichnung Übersetzung bestehe. Übersetzung bedeutet, dass ich versucht habe, am Wort Bellmans zu kleben. Ich habe mir zur Maßregel gemacht, auf deutsch nur das wiederzugeben, das Bellman auf schwedisch gesagt hat. Ich bin in seinen Pointen geblieben, habe seine Scherze gemacht, habe versucht, selbst die Zeilen der Strophen möglichst an ihrem Platz zu lassen und nichts umzustellen bis auf das Wenige, zu dem mich die Umstände der anderen Sprache und des Gedichtaufbaus manchmal gezwungen haben, bis auf einige Enjambements, die ich mir nicht verkneifen konnte oder wollte. Ich habe nichts hinzugefügt und nichts weggetan. Zum Beispiel heißt es am Schluss des 32. Lieds, dass Arachne die Arbeit am Webstuhl lassen soll. Nun ist Arachne eine Weberin, die die Webkunst von Athene erlernt hat, aber als Spinne weiterlebt, nachdem sie einen Wettbewerb im Weben eines Teppichs gegen ihre göttliche Lehrerin gewonnen hat und so von der düpierten eifersüchtigen Athene bestraft wird. Bellman hat da vielleicht aber schon das Bild der ersten mechanischen Webstühle vor Augen gehabt, weniger die  Verwandelte aus der griechischen Mythologie, und so seiner Arachne eine andere Dimension verliehen. Ich habe das ebensowenig kommentiert oder herausgestrichen wie Bellman selbst. Ich habe auch den Dichter nie korrigiert. So heißt es etwa am Ende des 82. Berichts, dass Klotho dem von echten Todesahnungen (oder vorgeblichen, um Ulla noch einmal in s Bett zu bekommen) gequälten Fredman einen Knopf vom Rock abschnitt auf Charons Geheiß. Geschah dies, weil der Knopf aus Silber oder Gold war und als Fährlohn dienen sollte, war es nur eine Warnung? Jedenfalls ist Klotho die der drei Parzen, die den Lebensfaden spinnt, und Atropos schneidet ihn ab. Vielleicht hat Bellman hier Klotho (auch wenn sie im 56. Bericht noch einmal mit der Schere erwähnt wird und nicht mit dem Spinnrocken) einen Scherz mit Fredman treiben lassen, vielleicht hat Fredman, als er Ulla beredete, selbst sich in der Mythologie geirrt. Wer weiß? Ich habe wiedergegeben, was mir Bellman gesagt hat.

Mit „Übersetzung“ betone ich also, dass Bellman spricht, nicht ich. Wie aber spricht ein Toter, der vor über zweihundert Jahren gestorben ist? Er spricht oft von Dingen, die wir nicht mehr kennen. Nehmen wir als Beispiel den 60. Bericht. Hier ist die Rede von einem Gerichtsverfahren und dessen Ausgang, der durch vorherige Zuwendungen der Angeklagten an den Gerichtsvorsitzenden zu ihren Gunsten entschieden wurde. Was aber verhandelt war, war Ehebruch, kein Scheidungsverfahren. Ist das für uns Angehörige des 21. Jahrhunderts, das so frank von LebensabschnittspartnerIn spricht, schon etwas sonderbar (und wir haben wohl vergessen, dass vor nicht allzu langer Zeit auch bei uns noch Ehebruch strafrechtlich geahndet wurde), so ist noch sonderbarer, dass hier die Ehefrau die andere klagt und der Mann in diesem Verfahren gar nicht dabei ist. Im Fall dieses Gedichts also finden wir nicht mehr vollen Zugang. Wir können uns an den Wortspielen freuen, vor allem an der großartigen Wendung in der letzten Strophe, wo in einem kleinen Satz über den voreingenommen Richter Pontius Pilatus, Freyja und Themis zusammengeführt werden in ein einziges Bild. Der Gegenstand des Verfahrens aber bleibt uns fremd.

Es ist aber nicht nur die Kühnheit des Bildes, es sind auch die Allegorien und mythischen Gestalten, die Bellmans Lyrik bevölkern und deren Anwesenheit unübersetzbar ist. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Kenntnis der Antike und der Bezug auf sie (oder darauf, das das bürgerlich gebildete Publikum unter Antike verstand) gang und gäbe, Latein war noch immer in den gelehrten Kreisen eine gesprochene Sprache und die mythologischen Gestalten als allegorische Figuren gegenwärtig. Bei Bellman tritt aber neben Bacchus Freyja. Sie ist die germanische Göttin der Liebe, der Ehe, des Frühlings und der Fruchtbarkeit und mit den ersten beiden Attributen eine der mythischen Hauptgestalten Bellmans. Dass sie daneben auch die Hälfte der gefallenen Helden in Walhalla für sich beanspruchen kann, interessiert ihn in diesem Zusammenhang nicht. Eher steht sie allegorisch als eine schwedische oder nordische Venus für Schönheit und Liebeslust. Warum aber nicht gleich Venus? Es wird doch Paphos (im Zypern der Venus) immer wieder erwähnt (und hin und wieder auch Venus selbst). Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass der Bezug auf Freyja auch ein Hinweis auf das erwachende Interesse an einer sich entwickelnden Nationalgeschichte ist, ein Hinweis auf die Emanzipation vom Ancien Régime, das sich ja letztlich in einer römischen Reichstradition sieht (anders verhält es sich mit der republikanischen römischen Tradition der französischen Revolutionäre, die sich diesen Rückgriff erst erfinden müssen). Das späte achtzehnte Jahrhundert entdeckte die Geschichte, machte sie fast als seine Erfindung zur Leitdisziplin der damals entstehenden neuen Einzelwissenschaften. Geologie, das System Linnés, die Naturgeschichte Buffons, Sprachwissenschaft, all dies ist ohne das neu entstandene geschichtliche Denken der Aufklärung undenkbar. Warum sollte es nicht auch in die Dichtung Eingang finden und der antiken Mythologie eine eigene gegenüberstellen? Vergessen wir nicht, Ossian oder vielmehr James McPherson (1736-1796) war ein Zeitgenosse Bellmans.

Ich habe dies alles so stehengelassen, wie es Bellman gedichtet hat. Ich habe also die Werktreue zum Prinzip dieser Übersetzungen gemacht, wohl wissend, dass dieses historisierende Herangehen durchaus ruinenhafte Züge annehmen muss. Ein Werk des 18. Jahrhunderts muss in unserer literarischen Umgebung wie ein erratischer Block wirken (unabhängig davon jetzt, ob die gegenwärtige literarische Umgebung dieselbe Qualität hat wie ihr schon klassisch gewordener Vorläufer), um es verdaulich zu machen, wird es oft in der Rezeption und in der Wiedergabe angepasst und geglättet. So konnte Bellman schon am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts ein Geheimtipp auf Kleinkunst- und Chansonbühnen und später zu einem Heros der LiedermacherInnen werden. Das Skandalöse aber seiner Zeit, an dem sich seine Zeitgenossen rieben, die ungeschminkte Beschreibung von Rausch und Krankheit und Tod (z. B. im 27. und 30. Bericht), das alles geht verloren im Wohlwollen des Publikums, das Bellman auf sich bezieht und die Stockholmer Bordelle, Kneipen und Ballhäuser auf die Kabaretts und die Clubs und Keller der Folklore- und Liedermacherszene. Soll aber das Skandalöse (vor allem der Berichte) erhalten bleiben, dann nur in der Rezeption, im gesicherten historischen Wissen; in der Empfindung, in der Hörgewohnheit (z. B. der Sprache, der genial eingesetzten Musik) ist es nicht mehr zu erleben.

Überhaupt die Musik. Sie war bei der Übersetzung ein eigenes Problem, denn sie muss mitvermittelt werden. Wie aber soll dies geschehen, wo das Notenlesen nicht mehr wirklich zu den alltäglichen Fertigkeiten des Publikums zählt? Gerade bei Bellmans Lyrik finden wir eine innige Verbindung von Text und Melodie, wie sie selten vorkommt; als Ergänzung und Interpretationshilfe, aber auch als jeweiliges Konterkarieren der einzelnen Elemente, indem die Melodie ironisch auf den Text wirkt und umgekehrt. So zum Beispiel wird für die Bordellszene des 9. Berichts eine Musik gewählt, die Johan Helmich Roman (1694-1758) zur Vermählung des schwedischen Thronfolgers mit der preußischen Prinzessin (und Schwester Friedrichs des Großen) Louise Ulrike geschrieben hatte.

Ich habe daher auf dieser CD neben Aufsatz und Übersetzung die jeweils erste Strophe des Gedichts gesungen. Ich habe dabei bewusst auf Arrangement und Interpretation verzichtet; es sollte eine ähnlich abstrakte Darstellung zu Stande kommen wie in der Notenschrift, aber doch ein sofort erkennbarer Zusammenhang von Wort und Melodie gegeben sein. Und wenn dabei manches Mal eine andere Variante des Textes zu hören ist als in der Übersetzung zu lesen, dann liegt das auch daran, dass die Übersetzung selbst bis zum Abschluss sich noch ein wenig gewandelt haben mag. Und die Qualität der Aufnahmen leidet auch nicht daran, dass Benno Patsch sich keine Mühe gegeben hätte – das Gegenteil ist der Fall und er kann für musikalische Betreuung nur empfohlen werden (benno.patsch@gmx.net) –, sondern an der Unzulänglichkeit meiner Stimme und meines Vortrags.

Es gab auch hin und wieder Stellen, an denen ich mit dem Bewahren des Textes nicht weiterkam, weil das Ruinenhafte der so übertragenen Stellen überwältigend und unverständlich geworden wäre. So zum Beispiel habe ich alle Böden, die mit Tannenreisern bestreut wurden (um den Boden sauber zu halten und ihn leichter reinigen zu können), umschrieben. Das ist für uns Heutige nicht mehr nachvollziehbar, auch wenn die Älteren unter uns noch Sägespäne in Wirtshausdielen kennen. Auch warme Föhrenzapfen im Bier habe ich weggelassen. Die größte Freiheit habe ich mir aber beim Titel genommen. Ich habe Epistel als Bericht übersetzt, nicht als Brief. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen wird in der Rezeption und Literaturgeschichte oft behauptet, Bellman hätte Bibelparodien geschrieben und auch der Titel Epistel würde darauf hinweisen. Ich kann dieser Interpretation nicht folgen. Die Lieder, in denen er von alttestamentarischen Figuren und ihrem Verhältnis zu Wein und Liebe singt, haben nichts Parodistisches an sich, eher etwas Simples, wenn es darum geht, dem aktuellen Vergnügen zu frönen. Das war ein Grund, warum ich dem Titel Epistel ausgewichen bin (auch wenn im 6. Bericht von einer Epistel an die Galimater die Rede ist – ein Wortspiel aus Galater und Galimathias, das vielleicht auf betrunkenes Gestammel abzielt, aber sicher keine Parodie auf Biblisches). Zum anderen aber musste ich beim Wort Epistel sofort an die Briefform als literarische Gattung denken und da natürlich an die Eipeldauerbriefe (Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran über d’ Wienstadt) des Josef Richter (1749-1813) oder ähnliche sehr populäre Hervorbringungen der Art, dass kritische oder satirische Berichte und Kommentare über Gott und die Welt abgegeben wurden. Und schon war der Titel Bericht für Epistel da.

Ein bisschen will ich noch aus der Schule des Übersetzens plaudern, bevor ich zum Ende des Aufsatzes komme. Ich möchte das Übersetzen anhand des 82. Berichts darstellen und zeigen, wie ich dabei vorgehe. Schon der Titel, in dem „ein Frühstück Ulla Winblads im Grünen“ vorkommt, wirft die ersten Fragen auf. Ein Frühstück Ulla Winblads? Ein Picknick also, das sie organisiert hat, nicht zu dem sie geladen oder mitgenommen wurde? Möglich; jedenfalls hat es mich zu der Annahme verleitet, Ulla Winblad trete hier (wie weiter oben angedeutet) selbstbewusst, wohl bürgerlich-honorig, sicher nicht als „Nymphe“ auf (womit Bellman durchwegs die Schankmädchen, Kellnerinnen und Prostituierten meint). Wenn dies als Ausgangsbasis des Gedichts und der darin beschriebenen Szenen angenommen wird, wird dies den weiteren Verlauf der Übersetzung bestimmen. Wir können uns also an die erste Strophe wagen.

Die Gedichte Bellmans sind durch ein höchst kunstvolles, elaboriertes Korsett von Melodie, Versmaß und Reimschema geprägt, das zu berücksichtigen in der Übersetzung oft eine Herausforderung darstellt. Manchmal wird sie dadurch gemildert, dass gewisse Reime vom Schwedischen in s Deutsche übernommen werden können, da die Sprachen im Wortschatz nahe verwandt sind. So etwa beginnt die erste Strophe mit den Reimen källa (Quelle), framställa (bewerkstelligen) und pimpinella (Pimpernell). Es drängt sich die Übernahme der Reime auf, das „machen, bewerkstelligen“ müsste dann auf der Stelle geschehen und viele Übersetzungen folgen auch diesem Schema. Weiter geht es mit Ulla, öfverstfulla (voll gefüllt, übervoll) und rulla (rollen). Also wird gerne weitergemacht mit einer Ulla, die wird wollen (oder von der wir wollen, dass sie sagen soll), welche Flaschen aus dem vollen Korb in s Gras rollen sollen. So weit so gut. An dieser Stelle aber komme ich zurück zum Titel, der von einem Frühstück im Grünen spricht. Bedeutet dieses „Grüne“ wirklich ein Picknick an einer Quelle? In welchem Gras liegen die leeren Flaschen? Am Ende dieser Strophe spielt ein Waldhorn. Im weiteren Verlauf der Schilderung wird Kaffee gekocht, wird eine Mandeltorte gebracht, süßer Schlagrahm wird gerührt, Musikanten spielen auf. Klingt das nicht eher nach einem Ausflugslokal, das vielleicht an einem kleinen Bach liegt, an einer gefassten Quelle? In der dritten Strophe jedenfalls wird auch eine Rotunde mit zusammengebundenen Bäumen erwähnt, ein kleiner Garten also, aus dem gepflegte, mit Wasser gegen den Staub besprengte (oder mit dem oft erwähnten Tannenreisig bestreute) Wege in ein Gehölz führen.

Wir sehen also, dass das Wirtshaus Ort des Gedichts ist und nicht die Quelle, die am Anfang dieser Schilderungen erwähnt wird – sie kommt auch im weiteren Verlauf der Schilderung nicht mehr vor. Ein ähnlicher, ähnlich sprichwörtlich gewordener Liedanfang ist von Franz Schubert (1797-1828), Musik, und Wilhelm Müller (1794-1827), Text, aus dem Liederzyklus „Winterreise“ bekannt: „Am Brunnen vor dem Tore“. Auch hier steht der Brunnen am Anfang des Gedichts, spielt aber in der weiteren Handlung keine Rolle mehr. Bellmans Szene wird also in einem Wirtshaus oder dessen Garten sich zugetragen haben. Damit besteht aber keine Notwendigkeit mehr für die Übernahme des Reimschemas mit der Quelle und ich habe in der Gestaltung des Textes etwas Freiheit gewonnen, ohne ihn wirklich verändert zu haben. Die Nymphe, die sich in der vierten Strophe um die Gäste bemüht, ist also die Kellnerin der Einkehr und nicht Ulla; ebenso wird die Aufforderung zum Kaffeekochen in der zweiten Strophe nicht an Ulla gerichtet. Es sind Überlegungen dieser Art, die am Anfang einer Übersetzung stehen und die dann, wie im vorliegenden Fall, ein kleines Augenzwinkern erlauben: „Ich hab es ja gemerkt; die Quelle kommt ohnehin vor. Ich hab sie in der letzten Strophe erwähnt, damit alles beieinander ist.“

Warum aber wirklich diese zusätzliche Übersetzung zu schon vorhandenen? Ich habe am Anfang gesagt, dass ich mit manchem, das ich vorfand, nicht glücklich war und mit den ersten Versuchen aus Neugierde begann, ob ich es denn nicht besser könnte. Später kam eine Freude an diesem Unterfangen dazu, die sich aus der vertieften Beschäftigung mit Bellman und seiner Zeit, aus einem nicht nur literarischen, sondern auch historischen Interesse speiste. Wie es dann gelungen ist, historische Genauigkeit mit poetischer Gestaltung zu vereinen, überlasse ich dem Urteil der geneigten Leserinnen und Leser. Nicht unerwähnt bleiben sollen aber noch einige Verweise. Da wäre zuerst die Deutsche Bellmangesellschaft zu nennen, deren Vorsitzender und Mitbegründer Klaus-Rüdiger Utschick eine Übersetzung der Lieder und Episteln vorlegte (im Anacreon-Verlag), die sich durch große Textgenauigkeit, wenn auch nicht durch große Eleganz auszeichnet. Das Verdienst dieser Übersetzung besteht zweifellos darin, dass sie sich dem Original sehr stark annähert, so dass wir durchaus einen präzisen Eindruck vom ursprünglichen schwedischen Text ohne Abweichungen und Interpretationen gewinnen, auch wenn dies manchmal zu Lasten der deutschen Sprache geht. Daneben ist die schon eingangs erwähnte Übertragung des großen Dichters Fritz Graßhoff zu stellen, die – auch mit allen Episteln und Liedern – das genaue Gegenteil von Utschicks Werk ist: Großzügig im Umgang mit der Vorlage, an der eigenen Sprache und am eigenen Jahrhundert orientiert, stellt sie eine Interpretation im Stil des Volkstons und Schlagers dar, manchmal zu Lasten des schwedischen Originals.

Zuletzt möchte ich all die vielen Tonaufnahmen, jede originell auf ihre Art, unerwähnt lassen bis auf eine: Sven Bertil Taubes Einspielungen von einigen Liedern und Episteln (auf zwei Schallplatten aus den 1960er Jahren, Skandinaviska Grammophon, oder neu aufgelegt auf einer CD aus dem Jahr 2008, Import) mit dem Philharmonischen Orchester Stockholm unter Ulf Björlin. Sie ist vor allem deswegen interessant, weil hier den bellmanschen Melodien ein Arrangement im klassischen Stil, also im Stil seiner Zeit unterlegt ist. Wenn auch Bellman selbst sich auf der Cister begleitet hat, hat er auf seinen Noten doch hin und wieder für die zwischen den Zeilen gespielten Einschübe Instrumente angegeben; er hatte also durchaus eine Vorstellung davon, wie die Lieder mit größerer instrumentaler Unterstützung hätten klingen können. Für meine historische Herangehensweise ist so eine Einspielung geradezu köstlich, wenn auch Zweifel an einer Werktreue im selben Atemzug geweckt werden, in dem eine größere orchestrale Besetzung zu Gange ist. Empfohlen sei auch noch das schon erwähnte Buch Paul Britten Austins (The Life and Songs of Carl Michael Bellman – Genius of the Swedish Rococo/Carl Michael Bellman. Hans liv, hans miljö, hans verk. Siehe auch Fußnote 5) für alle, die eine empfindsame und gleichzeitig ausgezeichnet recherchierte Biographie Bellmans und Darstellung des gustavianischen Stockholms lesen möchten. An dieser Stelle schließe ich und bitte um wohlwollende Aufnahme meines kleinen Beitrags.

© gerold wallner

Alle im Aufsatz erwähnten Beispiele sind auf der CD zu finden


1 Der große Steinitz. Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. deb verlag das europäische buch, westberlin, Sonderausgabe für Zweitausendeins, Westberlin 1979. Reprint der Bände I und II in einem Band von: Wolfgang Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten. Akademie-Verlag, Berlin-DDR 1955 (Bd. I) und Akademie-Verlag, Berlin-DDR 1962 (Bd. II).

3 Zur Illustration sei Franz Anton de Paula Gaheis (1763-1808, ein Zeitgenosse Bellmans und auch einer meiner Verwandten) zitiert (1805 im Wiener Verlagshaus Doll, Heft 54 aus den „Wanderungen und Spazierfahrten in die Gegenden von Wien“, Spazierfahrt von Wien nach Heiligenstadt): „Durch das Gesträuch erblickten wir ein reinliches weißes Häuschen; wir bekamen Lust, hier anzuhalten; es war eine schöne Mühle, die wir in ihrer einfachen Thätigkeit besichtigten. Ein anderes Mahl wählten wir den Spaziergang längs dem Nußbächlein und wurden ebenfalls von sehr entzückenden Natur-Scenen überrascht. (…) Die Einwohner, heuer nach den Amts-Protocollen 470 an der Zahl, sind meistens Winzer, oder handeln mit Obst und Milch nach Wien. Sie sind größten Theils gesund, wohl gebaut, und es sterben jährlich kaum 14 Menschen, da doch im Durchschnitte 20 bis 21 geboren werden; wie dieses aus den zehnjährigen Geburts- und Sterbelisten erhellet.“ Erstaunlich der distanzierte, wissenschaftlich-ethnologische Blick (auf die noch nicht Emanzipierten); Heiligenstadt ist heute ein Teil Wiens.

4 Eine genaue Übersicht geben die folgenden Seiten: http://www.anacreon.de/index.htm, http://www.bellmangesellschaft.de/index.htm, http://www.bellman.net (auf schwedisch)

5 Biographische Hinweise stammen aus: Britten Austin, Paul: Carl Michael Bellman. Sein Leben und seine Lieder. München, Anacreon Verlag 1998/2000.

6 Vielleicht ist hier aber auch der gesellschafts- und kunstkritischen Interpretation zu viel getan, denn E und U werden erst als getrennt im Bildungsbürgertum einer späteren Generation manifest, und darüber hinaus stellt sich die Frage, wie weit wir es sich mit Phänomene deutschsprachigen Kulturraums zu tun haben. Zu E, U und Pop möchte ich auf einen Aufsatz von mir verweisen: „In den Niederungen des Parnass“ auf http://members.chello.at/geroldwallner/sic/sic%202/parnass.htm

7 Carl Michael Bellman, Fredmans Episteln an diese und jene aber hauptsächlich an Ulla Winblad. Leipzig, Philipp Reclam jun., 1965. Nachwort von Hans Marquardt (1920-2004), op. cit. S. 174